„Ich kann ja nichts tun. Ich muss einfach zusehen, bin machtlos.“
Diesen Satz höre ich in der Persephone-Gruppe fast jedes Mal, wenn Männer sich öffnen.
Auf den ersten Blick scheint das klar: Sie wird ja schwanger, nicht er. Die körperliche Belastung liegt bei ihr, der medizinische Fokus ebenso. Selbshthilfegruppen und Ratgeber für Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch gibt es schon einige, entsprechende Angebote für Männer kaum.
Das Gefühl der Ohnmacht, das daraus entsteht, ist oft größer als die Realität. Es schafft aber in unseren Köpfen eine Realität, die Männern Spielräume nimmt, die sie tatsächlich hätten – und Frauen Entlastung, die sie dringend brauchen.
Wenn man sich als machtlos erlebt, schrumpft die Welt.
Das zeigen psychologische Modelle seit Langem: Wie wir denken, fühlen – und handeln (inklusive des Sprechens) ist eng miteinander verknüpft. Wer überzeugt ist, nichts tun zu können, empfindet Angst, Frustration oder Scham – und zieht sich tendenziell zurück. Dieses Rückzugsverhalten bestätigt wiederum das Gefühl der Machtlosigkeit:
„Ich kann nichts tun“ → ich handle nicht → ich fühle mich noch ohnmächtiger → ich handle noch weniger.
In der Kinderwunschzeit wirkt dieser Kreislauf wie ein unsichtbarer Katalysator für Belastung. Je weniger Männer handeln, desto mehr bleibt an ihren Partnerinnen hängen. Und zwar nicht nur das körperlich Sichtbare, sondern die unsichtbare, kognitive und emotionale Arbeit, die jede Kinderwunschreise begleitet: recherchieren, organisieren, mit Ärzt:innen und Sozialarbeiter:innen kommunizieren, Termine koordinieren, Befunde einfordern, Medikamente im Blick behalten, emotionale Gespräche initiieren, Nebenkrisen auffangen, den Alltag aufrechterhalten. Und: Der Kinderwunsch fordert nicht nur medizinische Entscheidungen, sondern existenzielle Fragen rund um Hoffnung, Sinn, Zukunft. Diese werden in der Regel ebenfalls von Frauen gedanklich vorverarbeitet, sprachlich getragen, emotional gehalten.
Es ist eine Ausprägung der berühmten „mentalen und emotionalen Last“ – also der ständigen unsichtbaren Verantwortung, dass „alles läuft“, die Frauen in heterosexuellen Partnerschaften auch sonst im Alltag überproportional häufig tragen. In der reproduktiven Krise kommt die „Fruchtbarkeitslast“ zusätzlich dazu, gespeist vom Mythos der Männerohmacht.
Die Forschung belegt: Die psychische Belastung ist bei Frauen deutlich höher. Etwa jede vierte Frau und jeder zehnte Mann in Europa entwickeln während einer Kinderwunschbehandlung eine depressive Störung; jede siebte Frau und jeder zwanzigste Mann eine Angststörung.
Diese Risikodifferenz ist kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis mehrerer ineinandergreifender Faktoren:
– die körperliche Beanspruchung der Behandlungen,
– die gesellschaftliche Gewichtung von Mutterschaft gegenüber Vaterschaft,
– und der reale Überschuss an Arbeit, Verantwortung und emotionaler Prozessbegleitung, den Frauen übernehmen.
Die Folgen betreffen jedoch beide: Wenn Frauen überfordert und erschöpft sind, sinkt die Beziehungszufriedenheit insgesamt – und mit ihr auch die Lebensqualität des Mannes. Die emotionale Schieflage einer Beziehung ist nie einseitig. Die Ohnmacht der einen Seite verstärkt die Erschöpfung der anderen, die Erschöpfung der einen Seite verstärkt das Gefühl der Ohnmacht des Gegenübers.
So wird der Mythos der „männlichen Ohnmacht“ zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Er raubt Männern Handlungsspielräume, Frauen Entlastung – und beiden die Chance, die Krise gemeinsam zu bewältigen.
Die Rollen, die Männern im Familienkontext zugestanden werden, sind erstaunlich schmal: Zeugung und Vorsorge, vielleicht ein paar operationelle Tätigkeiten im Day-To-Day, aber selten emotionale Mitgestaltung, Sinngebung, Projektleitung des Alltags. Das trägt sich bis in die Fruchtbarkeitskrise. Sie ist im Allgemeinen als Frauenkrise konzeptualisiert und behandelt, denn Fruchtbarkeit gilt als Frauensache.
Zu Unrecht, wie wir heute wissen. Denn selbst wenn man die psychische und soziale Dimension der reproduktiven Krise ausklammern würde, liegt ihre Ursache rein biologisch genauso häufig im sogenannten männlichen Faktors wie im weiblichen. Dennoch: Bis vor Kurzem wurde in den USA die Fruchtbarkeit von Frauen getrackt – die von Männern? Fehlanzeige. Die Geschichten von Männern, die sich bei ungewollter Kinderlosigkeit nicht testen lassen, sind nicht so selten, wie man denken möchte. Historisch galten Männer schlicht als nicht betroffen, wenn eine Schwangerschaft ausblieb. Als wäre die Menschheit die Frucht von Parthenogenese. Solche blinden Flecken prägen unser kollektives Bewusstsein bis heute.
Kein Wunder also, dass Männer ihre Handlungsspielräume nicht sehen, dass wir alle oft ihre Handlungsspielräume übersehen. Doch der Nebel beginnt sich zu lichten.
Die gute Nachricht ist: Es gibt für alle genug zu tun. Nach fünf Jahren reproduktiver Krise Mama geworden, weiß ich: Ein unerfüllter Kinderwunsch kann genauso viel Arbeit machen wie ein erfüllter. Und über diese Arbeit zu kommunizieren und sie zusammen zu gestalten schafft Nähe und Gleichgewicht.
In meiner eigenen Kinderwunschzeit habe ich das besonders deutlich gespürt.
Ich hatte am Anfang der medizinischen Abklärung den leichteren Zugang zu wissenschaftlichen Quellen – also übernahm ich, wie selbstverständlich, die Fachrecherche. Aber was nach Kompetenzaufteilung klang, war in Wahrheit ein zweiter, fachfremder Job. Zwischen Klinikterminen, Arbeit und Alltag wälzte ich medizinische Studien, sortierte Fachbegriffe, verfasste Listen von Fragen, die wir Ärzt:innen stellen konnten. Ich war erschöpft, gereizt, innerlich überfordert – und gleichzeitig überzeugt, ich müsse das alles schaffen.
Rückblickend war das ein kritischer Moment: Ich war im Funktionieren gefangen, mein Mann in der Ohnmacht. Da suchten wir uns Hilfe und gründeten Persephone. Das setzte Kommunikationsprozesse in Gang, die bald bewirkten, dass es mein Mann war, der beim Thema Adoption vorausging. Er meldete uns für das Erstgespräch an, das letzendlich zu unserem Kind führen sollte, er las sich ein – nicht in die idealisierten Seiten, sondern in die schwierigen: Bindungsabbrüche, Loyalitätskonflikte, Identitätssuche. Er erzählte mir davon, eröffnete Gespräche. Ich musste den Prozess nicht tragen, sondern konnte mich nunmehr auf eine geteilte Verantwortung des Krisenbewältigung verlassen. Der Unterschied war spürbar: Wir redeten mehr, wir fühlten uns verbundener, die Gespräche waren tiefer geworden, um uns herum der Platz weiter.
Das ist die eigentliche gute Nachricht: Der Mythos der männlichen Ohnmacht kann durch Erfahrung widerlegt werden. Im Kleinen, in den alltäglichen Momenten, in denen Verantwortung geteilt, Wissen ausgetauscht und Gefühle ausgesprochen werden. Wenn man das scheinbar selbstverständliche Narrativ herausfordert und aktiv nach Handlungsspielräume sucht, wächst man in eine neue Macht hinein. Das Gesamtgewicht wird leichter, die Beziehung tragfähiger.
Wenn Du das Gefühl hast, am Rand zu stehen, komm näher.
Wenn Du das Gefühl hast, alles in der Mitte zu halten – Du musst das nicht allein.
Beim nächsten Persephone-Treffen am Sonntag, 23. November, um 15:30 Uhr sprechen wir – gemeinsam mit einer Psychologin – über Psyche und Paarkommunikation in der Kinderwunschzeit. Melde Dich hier an!
Wir wollen verstehen, wie Paarkommunikation in der reproduktiven Krise uns aus festgefahrenen Narrativen heraushilft, wie sie sie wandeln und uns langfristig psychisch stärken kann.
Denn Ohnmacht ist kein Schicksal. Sie ist eine Einladung, gemeinsam einen Schritt zurückzutreten – um neue Handlungsmöglichkeiten zu sehen.
Euer Platz im Kinderwunsch ist aktiv, nicht passiv. Selbst in der Krise.
Und er ist geteilt.
TL;DR
Von unbeabsichtigten Belastungen und intentionaler Nähe. In vielen Gesprächen mit Paaren im Kinderwunsch sehe ich,…
Wie das Teilen von Erfahrungen im unerfüllten Kinderwunsch ein Wendepunkt für psychische Gesundheit sein kann.…
Ein Denkanstoß für alle, die sich in der reproduktiven Krise allein fühlen – und für…