Wenn der Kinderwunsch die Feiertage überschattet
Der Advent hat begonnen – und vielleicht spürst Du gerade nicht so sehr Weihnachtsvorfreude, sondern fühlst Dich vor allem kraftlos. Die To-dos im Job sollen noch schnell vor Jahresende abgeschlossen sein. Bürofeiern, Team-Events, Christkindlmärkte. Familienfeste, bei denen Menschen Fragen stellen, die sich wie ein ungestimmter Geigenkratzer anhören. Und irgendwo dazwischen: Ihr, Eure Sehnsucht, Eure Körper, Eure Seele, die schon so viel geleistet haben – und diese innere Leere, die Du nicht einmal klar benennen kannst. Du funktionierst. Du erscheinst. Du lächelst. Du sagst „alles gut“, es stimmt aber gerade nicht.
Wenn das bekannt klingt, ist dieser Text für Dich.
Wenn die Kraft langsam verrinnt: Erschöpfung bei unerfülltem Kinderwunsch
Wenn Menschen über lange Zeit zu viel tragen, körperlich, emotional, mental, ohne echte Pausen, Erfolg oder Halt, dann passiert etwas sehr Nützliches, aber auch Gefährliches: Man stumpft innerlich ein wenig ab, um weiter zu funktionieren. Man „schafft“. Aber innen wird es leerer.
Im Kinderwunsch passiert das oft besonders still: Die Belastung ist hoch, die Hoffnung umsomehr. Eine längere Pause fühlt sich an wie Aufgeben – und Aufgeben: undenkbar. Das Außen versteht selten, dass die unzähligen Mikroentscheidungen, Arzttermine, hormonellen Achterbahnen und sozialen Erwartungen einen Preis haben. Man selbst übersieht es oft, bis man irgendwann innehält und zurückblickend merkt: Boah, das was VIEL.
Familienfeste auf dünnem Eis: Wie sich die Feiertage im Kinderwunsch für viele anfühlen
Gerade jetzt, im Advent, spitzt sich das oft zu. Man lässt das Jahr Revue passieren und merkt: Man hat so viel geleistet. Und ein Kind ist immer noch nicht da. Alle scheinen überfüllt mit Licht, Plätzchen, Familienfotos. Du fühlst Dich darunter nur unsichtbar, als würde die eigene Geschichte im festlichen Lärm übertönt. Vielleicht erkennst Du Dich hier wieder:
- Weihnachten fühlt sich für Dich gerade nach einem Pflichtprogramm an, das Du am liebsten durchschlafen würdest – zudem Du ständig müde bist, obwohl Du eigentlich genug schläfst.
- Weihnachtseinladungen oder -feste lösen Überforderung aus – selbst solche, die früher für Dich immer freudig waren.
- Du hast Mühe, präsent zu bleiben, fühlst Dich bei Feiern wie „neben Dir“: körperlich anwesend, innerlich weit weg.
- Du vermeidest festliche Anlässe, weil das Bedürfnis nach Rückzug stärker ist.
Das alles kann ein Zeichen von Erschöpfung sein, die sich körperlich, emotional, kognitiv und im Verhalten manifestiert. Ein Zeichen dafür, dass Du zu lange zu viel gehalten hast. Und es macht Sinn, dass Du so fühlst. Weihnachten tut vielen Menschen im Kinderwunsch besonders weh, weil diese Zeit überspitzt, was das ganze Jahr über schon schwer war.
Wenn das Familiennarrativ bricht: Die stille Wucht von reproduktivem Trauma
Zuerst das Wichtigste: Erschöpfung in einer reproduktiven Krise ist normal. Über Monate oder Jahre hinweg Hoffnung zu schultern, Behandlungen zu durchstehen, Entscheidungen zu treffen und Verluste zu verarbeiten, hinterlässt Spuren. Man spricht von reproduktivem Trauma, wenn durch Diagnosen, Fehlgeburten, misslungenen Adoptionsprozesse usw. das ursprüngliche Familiennarrativ so massiv auseinanderbricht, dass das Nervensystem schlichtweg überfordert ist.
Viele Betroffene beschreiben diese Belastung als vergleichbar mit jener, die wir aus schweren körperlichen Erkrankungen kennen. Niemand würde erstaunt sein, wenn eine Person mit Krebsdiagnose müde, dünnhäutig oder rückzugsbedürftig ist: Wir ahnen ja, wie viel sie trägt. Beim unerfüllten Kinderwunsch fällt es uns schwerer, das zu sehen – vielleicht, weil er gesellschaftlich nicht als Krankheit konzeptualisiert ist. Aber Dein Körper, Dein Nervensystem und Deine Seele reagieren trotzdem. Und sie reagieren menschlich.
Ein sozialer Stressor in Goldpapier: Wie Weihnachten die Belastung von Kinderlosigkeit verstärken kann
Und dann kommt Weihnachten – ein familienzentriertes Fest, das wie ein Brennglas wirkt. Familienfeste können soziale Stressoren sein, weil sie Erwartungen bündeln und traditionelle Bilder von Familie verstärken. Auf einmal stehen Kinder, Elternrollen, Zugehörigkeit, unausgesprochene Regeln und unaussprechbare Vergleiche im Raum. Selbst wenn Dich niemand direkt fragt, kann die Kombination aus Ritual, Erinnerung, Symbolik und sozialer Nähe etwas in Dir aktivieren. Die Feiertage können die ohnehin bestehende Belastung sichtbarer, dichter und lauter machen.
Gerade deswegen gilt: Du darfst Entlastung suchen. Nicht, um etwas „richtig“ zu machen oder die Chancen auf ein Kind zu verbessern. Sondern einfach und realistisch, damit Du diese Zeit so gut wie möglich überstehst – mit Würde und dem Wissen, dass Deine Reaktionen und Bedürfnisse nicht nur verständlich, sondern zutiefst menschlich sind.
Kleine Inseln im Dezember: Ideen für etwas Entlastung im KiWu-Weihnachten
Menschen sind verschieden. Was dem einen Kraft gibt, erreicht den andere vielleicht gar nicht. Deshalb teile ich hier einfach drei Dinge aus meinem eigenen Repertoire, die mir in meiner KiWu-Zeit und darüber hinaus Halt gegeben haben – vielleicht ist eine davon auch für Dich stimmig. Wohlgemerkt: Ziel ist nicht „alles zu lösen“, sondern etwas Raum zu schaffen, um aus der Einengung herauszutreten. Eine Schulterbreite Platz zwischen Dir und der Erschöpfung.
1. “Morning Pages” im Advent: ein täglicher Moment des Loswerdens.
Wenig hat mir geholfen, mich selbst einmal am Tag wirklich zu spüren und zu entlasten, wie das Ritual der “Morning Pages” nach dem Klassiker The Artist’s Way. Vielleicht magst Du es heuer einfach 24 Tage lang ausprobieren, als Dein persönlicher Adventkalender der Entlastung: Jeden Morgen, noch möglichst nah am Schlafzustand, schreibst Du drei Seiten.
Frei heraus, schnell, unzensiert, für genau 0 Leser:innen. So, als würdest sie nicht einmal Du je wiederlesen. Ein stream of consciousness, der niemandem gehört außer Dir im Hier und Jetzt. Ohne Anspruch, etwas zu ändern, ohne Bewertung. Einfach hinschreiben, was auch immer Dir durch den Kopf geht.
Das wirkt durch nachgewiesene psychologische und neurobiologische Prozesse: das Ausdrücken von Gefühlen, die Regulation der Aufmerksamkeit, die Aktivierung motorischer Gehirnareale durch Handschrift und die Kraft wiederholter Gewohnheiten fördern nachweislich Kreativität, Selbstwahrnehmung und emotionales Wohlbefinden.
2. Mein „Nein-Glas“: ein Grenzenhalter
Irgendwann widmete ich ein wunderschönes Lobmeyr-Glas mit Deckel, ein Hochzeitsgeschenk, genau diesem einen Zweck: Meine Grenzen zu halten. Jedes Mal, wenn ich ein schwieriges, aber notwendiges Nein aussprach, schrieb ich den Anlass auf einen kleinen Zettel und legte ihn hinein.
Nein, wir werden heuer keinen Besuch zu Weihnachten haben.
Nein, ich will mich nach meiner Fehlgeburt nicht zum Familienfest mit Kleinkindern aufraffen.
Nein, ich bin gerade nicht die richtige Ansprechperson für postpartale Schwierigkeiten.
Nein, ich muss gerade nicht positiv denken.
Dieses Ritual machte für mich, die es lange schwer mit Grenzziehung hatte, das Unsichtbare sichtbar. Das Glas füllte sich bunt und zeigte mir: Ich höre auf mich. Und wie bei den Morning Pages machte gerade das Aufschreiben einen Unterschied: Es machte Muster greifbar. Ich merkte, welche Situationen mich immer wieder überfordern, welche Menschen meine Grenzen chronisch übertreten – und konnte mich gezielter davor schützen.
Wenn das nach egoistischem Rückzug aus der Welt klingt, möchte ich Dich dazu einladen, das eher als legitime Selbstfürsorge in einer extrem schwierigen Zeit zu sehen. Man kann später entscheiden, welche Grenzen langfristig bleiben sollten und welche nur in der Krise gedient haben.
Und vielleicht magst Du – je nach Einrichtungsstil und Persönlichkeit – ein ganz anderes Gefäß wählen: eine schöne Schachtel, eine Keramikschüssel, ein altes Schraubglas, eine Porzellandose… völlig egal. Hauptsache, es ist für Dich würdig genug, Deine Entscheidungen und Deine Fürsorge zu halten.
3. Ein „untypisches Weihnachten“ – oder: Was ist Familie im Fest?
Weihnachten muss nicht immer gleich aussehen. Und es muss schon gar nicht immer die Großfamilie sein – oder überhaupt die Blutsfamilie. Für uns war das deutlich spürbar im Jahr 2020: Wir haben damals mit zwei Freund:innen aus dem Ausland gefeiert, die wegen der Pandemie nicht zu ihren Familien reisen konnten. Es wurde eines der besinnlichsten und freudigsten Weihnachtsfeste. Ein Gast vertraute uns sogar an: “Das war das schönste Weihnachten meines Lebens.” Was für eine Ehre, das mit ihm erlebt zu haben. Mit etwas mehr Glück wäre es nie passiert.
Vielleicht ist es das, was Dich heuer entlasten könnte: mit Wahlverwandtschaft feiern. Menschen, die Dich wirklich sehen, die behutsam und aufgeklärt sind, die Deine Geschichte respektieren. Für mich persönlich waren gerade meine kinderfreien Freund:innen oft die einfühlsamsten Begleiterinnen – vielleicht, weil sie sich auch bewusst mit ihrer eigenen reproduktiven Geschichte auseinandergesetzt hatten und entsprechend feinfühlig mit unserer umzugehen wussten.
Ein untypisches Weihnachten kann aber viele Formen annehmen: ein festliches Essen zu zweit, ein kurzer Besuch bei der Herkunftsfamilie und danach ein Abend mit dem Lieblingshobby, mal selbst das Weihnachtsfest nach eigener Vorstellung organisieren und die anderen zu sich einladen, oder gar alles hinter sich lassen, ins Auto steigen und den lang ersehnten Roadtrip starten. Vielleicht tut es gerade gut, Dinge zu planen, die mit kleinen Kindern schlicht nicht möglich wären. Nicht als „Ersatzprogramm“, sondern als Erinnerung daran, dass auch jetzt Möglichkeiten da sind und dass Du das Recht hast, sie zu ergreifen.
Wenn der Nikolaus anklopft: Darf’s heuer ein bisschen mehr Unterstützung sein?
Vielleicht haben Dich die drei Dinge aus meiner Toolbox schon ein wenig inspiriert – und gleichzeitig spürst Du, dass die größeren Fragen rund um diese Zeit trotzdem bleiben. Denn selbst mit guten Strategien kann sich Weihnachten bei unerfülltem Kinderwunsch schwer anfühlen.
Und vielleicht ist genau jetzt der Moment, an dem mehr Unterstützung gut wäre.
Was wäre, wenn der „Nikolaus“ dieses Jahr in Form von professioneller Begleitung kommt – und Du Dir erlaubst, sie anzunehmen?
Ein Erstgespräch bei einer Psychotherapeutin, einem Psychotherapeuten, einer Psychologin oder einem Psychologen, der mit unerfülltem Kinderwunsch und reproduktiven Krisen vertraut ist, kann ein großes Geschenk sein. Selbst, wenn der eigentliche Beginn der Begleitung erst im neuen Jahr liegt – allein den Termin zu vereinbaren, kann bereits eine enorme Erleichterung bringen. Es ist ein Akt der Fürsorge für Dich und für Euch als Paar. Ein Zeichen dafür, dass das, was Du trägst, schwer genug ist, um gehalten zu werden.
Du musst das nicht allein stemmen. Unterstützung aufzusuchen heißt, Dir und Euch einen Menschen an die Seite zu stellen, der Dich sieht, der mitdenkt, der mitträgt – offen, empathisch, wertschätzend.
Herzliche Einladung zu einem Ort, an dem Du nicht funktionieren musst
Und wenn Du das Gefühl hast, dass Du darüber hinaus unter Mitbetroffenen und Gleichgesinnten andocken möchtest, kann eine Gruppe wie Persephone auch etwas für Dich sein. Wenn Dir nach Austausch in Gemeinschaft ist, freue ich mich, Dich bei einem unserer Treffen zu sehen. Du darfst kommen, so wie Du gerade bist.
Der Persephone-Newsletter ist der beste Weg, um über die nächsten Termine und andere Impulse am Laufenden zu bleiben.
